Der Rheinfall beim schweizerischen Schaffhausen ist um eine Attraktion reicher: Im Juni 2019 wurde die Strecke der Linie 12 erweitert. Seither verkehrt der neue selbstfahrende Bus „Trapizia“ täglich nach Fahrplan vom Ortskern in Neuhausen am Rheinfall bis hinunter zum Rheinfallbecken und zurück.
Wer mit dem öffentlichen Verkehr an den Rheinfall reist, fährt mit dem Zug nach Schaffhausen und von da mit dem Stadtbus der Linie 1 bis zur Haltestelle Zentrum in Neuhausen. Der letzte Kilometer wird zu Fuß zurückgelegt. Um wieder zurück zum Bus zu gelangen, sind auf dem Rückweg 55 Höhenmeter zu bewältigen.
Die Laufengasse ist besonders anstrengend, mit einer Steilheit von zu-nächst 12% und zuletzt gar 15%. Für Rollstuhlfahrer, aber auch für Personen, die nicht mehr so gut zu Fuß sind, ist der Zugang zum Rheinfall damit schwierig
Seit dem Fahrplanwechsel 2015 bedient die S-Bahn Zürich–Schaffhausen halbstündlich eine neu eingerichtete Bahnhaltestelle direkt oberhalb des Rheinfalls. Von dieser gelangt man über eine neu erstellte Liftanlage, welche die obere Stufe der Laufengasse überwindet, zum Rheinfall und wieder zurück.
Die Erschließung ist aber trotzdem nicht optimal: Auch wenn die Liftanlage nun die obere Rampe überbrückt, sind vom Rheinfallbecken zum unteren Lift noch immer 14 Höhenmeter bei 12 % Steigung zu überwinden.
Um für alle Besucher einen bequemen Zugang zum Rheinfall zu gewährleisten, haben die Verkehrsbetriebe Schaffhausen die neue Linie 12 eingerichtet und betreiben diese mit einem selbstfahrenden Shuttle.
An der Haltestelle Neuhausen Zentrum (nord) nimmt das Shuttle Fahrgäste, die mit dem Stadtbus aus Schaffhausen ankommen, auf und befördert sie auf einer Strecke von rund einem Kilometer zum Schlössli Wörth am Rheinfallbecken.
Ein Zwischenhalt beim unteren Lift macht den Ausflug zum Rheinfall auch für Bahnreisende barrierefrei. Bei großem Besucheraufkommen entlang des Rheinfallbeckens kann die Strecke bei der gleichnamigen Haltestelle verkürzt werden.
Ab dem Schlössli Wörth können die Besucher mit Ausflugsbooten zum Rheinfallfelsen gelangen oder auch ans gegenüberliegende Rheinufer wechseln, um den Rheinfall aus anderer Perspektive zu bestaunen oder per Zug nach Winterthur weiterzureisen. Zudem verkehren rheinabwärts Kursschiffe, sodass es nicht verkehrt ist, zu bemerken, dass die Linie 12 eine Lücke im ÖV-Angebot rund um den Rheinfall schließt.
Als das Fahrzeug im Dezember 2016 für die beschriebene Strecke eingerichtet wurde, stellte sich heraus, dass die Steigungen entlang der Laufengasse für das Fahrzeug im Dauerbetrieb nicht zu bewältigen waren. Die Motorenleistung reichte zwar, aber die Abwärme konnte nicht genügend rasch abgeführt werden.
Der Fahrzeughersteller versprach Abhilfe durch ein weiterentwickeltes Fahrzeug mit doppelter Motorisierung und Vierradantrieb. Dieses war allerdings dannzumal erst auf dem Reißbrett vorhanden.
Die Verkehrsbetriebe Schaffhausen entschieden sich, trotzdem bereits einen Pilotbetrieb zu starten. Ab März 2018 verkehrte deshalb „Trapizio“, so der Kosename des Fahrzeuges, auf dem oberen Abschnitt, zwischen Zentrum und Industrieplatz. Mit großer Resonanz, wie sich herausstellen sollte: Über 30.000 Fahrgäste machten in den ersten 15 Monaten von der Möglichkeit Gebrauch, das neue Mobilitätsangebot zu erproben, auch wenn der tatsächliche Nutzen innerhalb einer Reisekette noch nicht groß war.
Unter den Probefahrern befanden sich auch zahlreiche Fachleute, darunter Vorstände und Abteilungsleiter diverser Verkehrsbetriebe aus dem deutschsprachigen Raum und auch darüber hinaus, die sich darüber informierten, wie selbstfahrende Fahrzeuge in das von Trapeze gelieferte Betriebsleitsystem eingebunden werden.
Nach rund einem Jahr Entwicklungszeit wurde „Trapizia“, das neue 4x4-Fahrzeug, Ende März 2019 geliefert. Die Änderungen waren nicht nur konstruktiver Natur: Wegen der durch zwei Motoren und vier angetriebene Räder erzeugten größeren Traktion hatte die für die Fahrdynamik zuständige Software frisch auf das Fahrzeug angepasst werden müssen.
AMoTech war wiederum für den Erhalt der Straßenzulassung zuständig. Nur zwei Monate später konnten nach erfolgter Einzelabnahme des Fahrzeuges durch die Bundesämter für Strassen und für Verkehr die Nummernschilder angebracht werden.
Am Industrieplatz macht das Fahrzeug von seiner durch zwei gelenkte Achsen ermöglichten Wendigkeit Gebrauch und fährt eine 180°-Kurve. Die Weiterfahrt erfolgt nach einem „Kopfwechsel“, bei dem Front und Heck des Fahrzeuges vollelektronisch getauscht werden.
Dies bedeutet, dass alle Leuchten inklusive Nummernschildbeleuchtung doppelt vorhanden sind und je nach Fahrtrichtung ein- oder ausgeschaltet werden. Die Tafeln, die normalerweise am Heck befestigt sind, werden auf Anzeigern dargestellt und sind somit ebenfalls elektronisch umschaltbar.
Die schweizerischen Behörden stellen für den Zweirichtungsbetrieb die Bedingung, dass der Kopfwechsel nur im Automatik-Modus stattfindet. Beim manuellen Rückwärtsfahren muss die Rückfahrlampe eingeschaltet werden. Für diese Feinheiten wurde die Fahrzeugsoftware eigens angepasst.
Die Vorteile des Zweirichtungsbetriebs liegen beim Parcours am Rhein-fall auf der Hand: Die Türen sind immer auf der gleichen Seite (Richtung Rheinfall), sodass pro Haltestelle in beiden Richtungen der gleiche Haltepunkt angefahren werden kann. Das vorzeitige Wenden bei der Haltestelle Rheinfallbecken gestaltet sich ebenfalls viel einfacher, als wenn die Richtung durch mehrmaliges vor- und rückwärtsfahren gewechselt werden müsste.
Auch wenn das Shuttle in der Leitstelle bereits sichtbar ist und auf den Haltestellenanzeigern dargestellt wird, wird die Integration in das Leitsystem von Trapeze noch weitergetrieben. Momentan wird daran gearbeitet, das Fahrzeug so anzusteuern, dass es den Fahrplan einhält und immer zum richtigen Zeitpunkt die Türen schließt und zur nächsten Haltestelle fährt, von der Depotausfahrt am Morgen bis zur -einfahrt am Abend.
AMoTech arbeitet mit allen relevanten Fahrzeugherstellern zusammen, um deren Fahrzeuge in das Leitsystem einzubinden. Dabei sollen längerfristig nicht nur die Leitsysteme von Trapeze unterstützt werden, sondern auch diejenigen anderer Systemlieferanten.
Entlang der Promenade am Rheinfallbecken gibt es diverse Engstellen, wo das Vorwärtskommen inmitten der Rheinfallbesucher schwierig und das Kreuzen mit anderen Fahrzeugen unmöglich ist. Deshalb wurde beim Einrichten der Strecke darauf geachtet, dass wenigstens an den Haltepunkten andere Fahrzeuge am Shuttle vorbeifahren können.
Wie sich ein selbstfahrendes Fahrzeug auf einer solchen Strecke vorwärtsbewegen kann, ist Bestandteil des Versuchs. Klar ist, dass ein ständiges Stop-and-Go für einen menschlichen Fahrer sehr ermüdend wäre, was bei einem automatisierten Fahrzeug nicht der Fall ist. Dieses ist am Ende eines Betriebstages noch genauso aufmerksam wie zu Beginn.
Als Vorbereitung für die Programmierung wurde die Strecke nachts mittels 3D-Lidar (Laserscanner) abgetastet und daraus eine Referenzkarte erstellt. Auf Basis derselben kann das Fahrzeug seinen Standort zentimetergenau ermitteln, indem es die mittels Lidar effektiv gesehene Umgebung mit der Referenzkarte vergleicht.
Auf Basis der Lidar-Karte ist die Strecke festgelegt. Für jeden Streckenabschnitt ist nicht nur die Fahrgeschwindigkeit programmiert, sondern auch der seitliche Sicherheitsabstand und andere Parameter.
Das Vorwärtskommen in einer engen Fußgängerpassage ist für ein selbstfahrendes Fahrzeug nicht ganz ohne. Die programmierte Geschwindigkeit entlang des Rheinfallbeckens beträgt nur rund 5 km/h. Bei dieser geringen Geschwindigkeit treten die Fußgänger nicht weit zur Seite, wenn sie dem Fahrzeug Platz machen. Deswegen ist der seitliche Sicherheitsabstand dort sehr knapp eingestellt.
Wenn der Andrang von Besuchern am Rheinfall derart groß ist, dass das Fahrzeug nur noch mit Mühe oder gar nicht mehr durchkommt und so für die Fußgänger ein Hindernis darstellt, wird im Leitsystem bei der Halte-stelle „Rheinfallbecken“ eine Kurzwende eingerichtet.
Auch wenn der Betrieb am Rheinfall per se ein sinnvolles Mobilitätsangebot darstellt, so handelt es sich dennoch um einen Versuch, bei dem neue Erkenntnisse angestrebt werden: Wie fühlen sich die Passagiere in den steilen Passagen? Wie verändert sich der Energieverbrauch durch die anspruchsvollere Topografie? Wie sieht die Temperaturkurve aus? Wie bewegt sich das Shuttle durch die Touristen entlang des Rheinfallbeckens? Diese Fragen interessieren nicht nur den Betreiber und den Fahrzeughersteller, sondern auch das Bundesamt für Strassen, das die Sonderzulassung für den Betrieb des Fahrzeuges auf dieser Strecke erteilt hat.
Selbstfahrende Fahrzeuge sind heute technisch noch nicht ausgereift. Der Weg bis zum problemlosen Betrieb zu jeder Zeit, in jeder Umgebung und in jeder Situation ist noch weit. Dennoch sind Pilotversuche auch zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur wertvoll, sondern zwingend notwendig, damit sich die Industrie und die Gesellschaft mit den neuen Möglichkeiten auseinandersetzen können. Nur so werden diejenigen Mobilitätslösungen entstehen, welche für alle Bedürfnisse das passende Angebot ermöglichen.
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